Bedürftig. Wirklich bedürftig.

Bedürftig – 9. Kandidat: Vasile R.

 

Bernd Bieglmaier war wieder unterwegs. Nicht um irgendwelche Bedürftigen, wirklich Bedürftigen, an irgendwelchen Orten aufzulesen, sondern um ganz banal einkaufen zu gehen. In den wunderschönen Einkaufspassagen seiner kleinen Stadt. Dort, wo man sich dem Konsum frönen konnte, um die Alltagssorgen für einige Augenblicke zu vergessen und keine Gedanken außerhalb der eigenen Lokalität zuzulassen. Ganz wie gewünscht.

Bernd Bieglmaier las den Bedürftigen nicht auf, er stolperte über einen. Gleich neben der Filiale, wo man nicht Nahrung, aber Übersee-Essen kaufen konnte.

Herr Bieglmaier erkannte einen am Boden sitzenden Mann, der dort nicht hingehörte. Er passte weder zur Hausfassade noch zum Asphalt, nicht einmal farblich.

 


Dies war für Bernd Bieglmaier freilich kein Grund, in dem freundlichen Mann, der sich als Vasile R. aus R. vorstellte, einen Bedürftigen zu sehen. Auch nicht, als dieser erklärte, dass die Kleidung, die er trug, sein einziger Besitz sei. Wusste Bernd Bieglmaier doch, dass Besitzlosigkeit auch Freiheit bedeutete. In gewisser Weise jedenfalls.

Doch so einfach machte es ihm Herr R. nicht. Dieser verwies auf seine Beine, von denen er nur noch eines besaß, demnach das andere nicht mehr besaß. Herr Bieglmaier erblickte hierin nun eine stark eingeschränkte Freiheit und begann sich für das Leben von Vasile R. zu interessieren.

Er setzte sich hinzu und bot Herrn R. eine Zigarette an.

Bernd Bieglmaier erfuhr daraufhin die ganze Tragödie des Vasile R., der vor Monaten noch ein ganz normaler Mann gewesen war. Mit Versprechungen habe man ihm nach Österreich gelockt, das Versprechen nach ein wenig Wohlstand. Er habe seinen Pass abgeben müssen, um in den Fußgängerzonen verschiedener Städte arbeiten zu dürfen. Aber man sei unzufrieden gewesen über seinen zu geringen Ertrag. Erst nachdem man ihm ein Bein abgenommen habe, sei es besser für ihn gelaufen. Und für seinen Chef natürlich.

 

Da die Erträge des Chefs für die klar wahrnehmbare Bedürftigkeit des Vasile R. allerdings keine Rolle spielten, dafür aber die Not und die Konseqenzen aufgrund der Einbeinigkeit seines Gesprächspartners, kam Herr Bieglmaier nicht umhin, Hernn Vasile R. als einen Bedürftigen der Woche vorzuschlagen.

Um dessen Not zu lindern, entschloß sich Herr Bieglmaier sogar, Vasile R. jene Münzen auszuhändigen, die Passanten zwischenzeitlich auch ihm zugeworfen hatten.

 

 

Dienstag
30
Oktober 2012
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