Bedürftig. Wirklich bedürftig.

Bedürftig – 12. Kandidat: Talib-A. N.

 

Den heutigen Kandidaten traf Bernd Bieglmaier am Bahnhof, wo er sich neue Zigaretten kaufen wollte.

An Bahnhöfen hängen gewöhnlich viele Menschen herum, doch Talib A. stach aus ihnen heraus, weil er nicht nur etwas verloren, sondern auch deplaziert wirkte.

Bernd Bieglmaier war neugierig. Er suchte das direkte Gespräch. Und er hatte recht. Talib -A. N. war nicht nur deplaziert, er war auch verzweifelt, weil das Drogengeschäft ganz schlecht für ihn lief. Es lief gar nicht.



Talib-A. N. ist ein Flüchtling aus Afghanistan. Damals, im Jahre 2000, hatte er noch zu den „Guten“ gehört, da hatte ihm die pakistanische ISI eine fundierte Ausbildung ermöglicht, man hatte ihm Geld von den radikalen Saudis gegeben und er hatte unter Aufsicht seiner strategischen Partner aus Übersee für Ordnung im Land gesorgt. Zumindest so lange, bis dieser strategische Partner sich unzufrieden mit den Geschäftsbeziehungen gezeigt und unter dem Vorwand von Terrorismusbekämpfung und Frauenrechte seinen Mißmut mit Bombenteppichen und anderem Übel zum Ausdruck gebracht hatte. Talib hatte rechtzeitig das Land verlassen und um Asyl in Österreich angesucht. Dort hatte er dann 2003 über die Medien die Botschaft des Anführers aus Übersee vernommen, dass seine Glaubensbrüder vernicht worden wären. Talib-A. N. war froh gewesen, dass wenigstens er hatte entkommen können.

Talib hatte es zwar geschafft, führte aber seiner Ansicht nach das Leben eines Hundes. Er selbst durfte nichts, er musste machen, was andere ihm sagten. Und das war auch nichts. Dann hatte er Hoffnung verspürt, als urplötzlich seine Glaubensbrüder in seinem Land trotz massiver Besatzung wieder vorhanden waren. Zuerst vernichtet, dann wieder da. Und wie! Nicht nur das, es soll seinen Glaubensbrüdern sogar gelungen sein, trotz des massiven Militärapparates und totaler Luftüberwachung der Fremden das dortige Mohn- und Heroingeschäft an sich zu reißen und sogar jedes Jahr weiter auszubauen. Mit immer größeren Schlafmohnfeldern, immer größeren Heroinfabriken und einer immer besseren Infrastruktur. In jeder Zeitung war dies zu lesen gewesen.

Ein Wunder, hatte Talib-A. N. geglaubt, ein Wunder! Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Auch wenn es für Talib nicht nachvollziehbar blieb, wie seinen Glaubensbrüdern die Unsichtbarkeit gelungen sein soll, so schien er doch zu verstehen, dass eben diese seine Glaubensbrüder sich nun einem Geschäft zu widmen schienen, welches sie zuvor, bis zur Invasion durch die Fremden, allein aus religiösen Motiven strikt abgelehnt hatten. Wegen dem Geld natürlich, das sie nun benötigten, wegen dem Einkommen, wegen der Notwendigkeit, neue Glaubensbrüder auszubilden und neue Handfeuerwaffen zu kaufen, um sich den feindlichen Jagdbombern und Drohnen der Besatzer zu erwehren. Das schien logisch.

Bernd Bieglmaier hörte freundlich zu. Er verstand Talib. Aber irgendwie auch nicht, denn im Gegensatz zu Talib-A. N. gehört Bernd Bieglmaier keiner Sekte an. Irgendetwas schien innerhalb seiner Logik zu haken.

Nicht so bei Talib, da Religion nicht unbedingt etws mit Logik zu tun hat. Bei ihm machte es sich auf ganz andere Weise bemerkbar. Und das war es, was ihn zur Verzweifelung brachte: er lebte immer noch wie ein Hund, weil das Drogengeschäft nicht lief, weil sein Drogengeschäft nicht lief. Weil er von seinen Glaubensbrüdern keinen Stoff bekam, den er hätte „verticken“ können.

Warum dem so war, konnte Bernd Bieglmaier nun auch nicht sagen, weil er diese Glaubensbrüder nicht kennt. Aber er schaute sich am Bahnhof um und stellte fest, dass es zwar jede Menge Dealer gab, aber niemand so ausschaute, wie Talib-A. N. Nicht nur das, Bernd Bieglmaier erfuhr – natürlich nur ganz im Vertrauen, dass der Stoff ausschließlich von europäischen Pragmatikern geliefert wurde. Und die wären alle „Weiße“, wie sogar die „Schwarzen“ bestätigten.

Bernd Bieglmaier unterrichtete anschließend Talib von seinem Befund, doch wollte dieser, in der Erziehung des Glaubens groß geworden, dem keinen Glauben schenken.

Und weil Talib-A. N. auch heute noch glaubt und seiner Gefühle nach das Leben eines Hundes führt, küren wir ihn mit seiner ganzen persönlichen Tragödie zum Bedürftigen der Woche.

Auch wenn Talib-A. N. kein gebürtiger Österreicher ist – er ist auch einer von uns.

 

Sonntag
03
Februar 2013
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